Frauen als Vorbilder in der Gegenwart

Professorin Dr. DDr. h.c. Angelika Nußberger M.A 

Noch immer ist es eine Nachricht, dass eine Frau „die erste Frau“ ist: die erste Frau im All, die erste Bundeskanzlerin, die erste Verteidigungsministerin; wir kennen sie alle, diese „ersten Frauen“, diese Nachrichten. Ich selbst habe die Freude, seit dem 6.1.2022 die erste Vorsitzende der Staatsrechtslehrervereinigung zu sein, gleichfalls nach 100 Jahren. Aber wir hoffen, dass es mit derartigen Nachrichten bald ein Ende haben wird, weil Frauen alle Bereiche des öffentlichen Lebens erobert haben und nirgendwo mehr ausgeschlossen sind, weil die Zeit der Pionierinnen vorbei ist und eine Epoche beginnt, in der die Zusammenarbeit von Männern und Frauen eine Normalität ist, die keiner Kommentierung mehr bedarf.

Philipp_Kester,_Maria_Otto

Von Philipp Kester - https://sammlungonline.muenchner-stadtmuseum.de/objekt/maria-otto-10112870.html, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=104543663

Das war im Jahr 1922 völlig anders. Maria Otto, derer wir heute mit dieser Feier gedenken, lebte nicht in einer derartigen Normalität. Sie war ausgeschlossen. Sie stand vor einer Mauer des Unverständnisses und der Intoleranz. Nachdem sie eine juristische Ausbildung gemacht hatte, wurde sie nicht zum Referendardienst zugelassen. Sie erstritt eine „informatorische Teilhabe“, konnte aber das zweite Staatsexamen nicht ablegen und damit keinen der klassischen Rechtsberufe ergreifen. Dabei war sie besonders gut ausgebildet, hatte ein Zweitstudium absolviert und war Diplomkauffrau, zudem promoviert mit dem Thema „Der internationale Rechtsschutz gegen unlauteren Wettbewerb“. All das nutzte nichts, das Gesetz war klar, sie hatte keine Chance, ihre Kenntnisse unter Beweis zu stellen und ihren Wunschberuf zu ergreifen. Dem standen gesellschaftliche Ursachen, aber auch wirtschaftliche Überlegungen entgegen; man wollte keine zusätzliche Konkurrenz in einem Beruf, der als „überfüllt“ galt. 100 Jahre später sieht die Situation anders aus. Frauen haben die Rechtsberufe erobert, auch wenn sie zumeist noch in der Minderheit sind. Eine Ausnahme ist das BVerfG, dort sind sie in der Mehrheit. In den Führungspositionen in der Justiz schwanken die Zahlen für 2020 zwischen 12,5 % in Mecklenburg-Vorpommern und fast 42 % in Hamburg. Aber es war ein langer Weg dahin. Maria Otto war eine eher stille Vertreterin, von ihr ist nicht viel zu berichten. Sie wollte, wie sie sagte, für ihre „Mitschwestern“ da sein und befasste sich mit Familiensachen, war in einer Vielzahl von Vormundschaftsangelegenheiten tätig, konzentrierte sich damit eher auf Themen, die traditionell Frauen zugedacht wurden. Sie war keine Kämpferin. Das Feld hat sie anderen überlassen, auch jenen, die nach ihr gekommen sind. Andere Frauen waren lauter, sichtbarer, einflussreicher. Zu den lauten, sichtbaren und einflussreichen Frauen des Rechts gehört sicherlich Ruth Bader Ginsburg.

Ruth Bader Ginsburg

Spätestens im Jahr 2018 kannten sie alle, als fast zeitgleich ein Spiel- und ein Dokumentarfilm über sie gedreht wurden. „Ein Leben für die Gerechtigkeit“ – so hieß der Dokumentarfilm über die bedeutendste Richterin am amerikanischen Supreme Court, Ruth Bader Ginsburg, RBG, wie sie liebe- und achtungsvoll genannt wurde. Sie wurde 40 Jahre nach Maria Otto auf einem anderen Kontinent geboren, 1933. Es war immer noch eine Welt, in der niemand wusste, dass es einmal Gender-Sternchen geben würde, eine Welt, in der Leistung zählte, aber nicht allen zugestanden wurde zu zeigen, zu welchen Leistungen sie fähig waren, in der Ehe zugleich Tugend und Selbstverständlichkeit war. Ruth Bader Ginsburg wurde zur Vorkämpferin für Frauenrechte. Sie war zu klug und zu willensstark, um sich in die vorgegebenen gesellschaftlichen Schablonen für ein Frauenleben einzupassen, sie wollte nicht anerkennen, dass alles, so wie es war, auch sein musste, das hatte sie mit Maria Otto gemeinsam. Es gelang ihr etwas zu bewegen in einer Gesellschaft, die nicht auf sie vorbereitet war und sich doch ihren Argumenten nicht verschließen konnte. 1993 wurde sie zur Richterin am Supreme Court ernannt.

In dem Dokumentationsfilm wird ihre Streitbarkeit und ihre Durchsetzungsfähigkeit nachgezeichnet, ihre Geradlinigkeit und Willensstärke. Dem Dokumentationsfilm folgte noch im selben Jahr ein Spielfilm mit dem Titel „On the basis of sex“, deutsch „Die Berufung“. Damit war sie ein Star, eine Ikone, T-Shirts wurden mit der Aufschrift „Notorious RBG“ gedruckt ebenso wie Tassen und andere Devotionalien. Die kleine alte Frau, vielleicht 1,55 m groß, zierlich, fragil, selbstbestimmt, sah man lächelnd in all dem Rummel stehen, der sie plötzlich umgab. Sie blieb dabei: „I dissent – ich bin anderer Meinung.“ 2020 ist sie gestorben, im Alten von 87 Jahren. Frau, Juristin, Ikone.

Brenda Hale

Aber auch wenn RBG einmalig ist und sich bereits ein Mythos um sie gebildet hat, so gibt es doch andere, die ihr nicht viel nachstehen, auch wenn sie etwas weniger bekannt sein mögen. Erinnern Sie sich noch an jene Spinne, mit der eine Frau Rechtsgeschichte geschrieben hat? Es war Brenda Hale, die Präsidentin des britischen Supreme Court, die das Urteil verkündete, mit dem Boris Johnsons Versuch, das britische Parlament auszuspielen und mit einer Fristverschiebung zu verhindern, dass es über den Brexit debattieren könnte, juristisch zurückgepfiffen wurde. Im Rückblick mag man streiten, was mehr Beachtung fand, die Spinne oder das Urteil. Ich traf Brenda Hale kurze Zeit später in Lincoln’s Inn. Ebenso wie RBG ist sie eine sehr kleine, zerbrechlich wirkende Frau, in der Argumentation präzise und überzeugend, zugleich mit einer ironischen Distanz zu sich selbst. Auf die Spinne angesprochen meinte sie, die Spinne gehöre eben zum Kleid. Und nachdem sie sich am Morgen für das Kleid entschieden hatte, durfte die Spinne nicht fehlen. Mut zur Schrulligkeit, Mut zur Extravaganz, oder einfach britischer Humor?

Diese Frauen haben ihren Weg gemacht, sie waren immer noch, wie Maria Otto, „die Erste“, „die Einzige“. Sie konnten kaum Vorbilder haben, den es gab nur wenige vor ihnen, die an die Spitze gekommen waren. In der Gegenwart ist das sicherlich anders. Aber einfach ist es noch immer nicht.

Brenda_Hale

image taken from Supreme Court/Parliament TV footage. Supreme Court/Parliament TV via Reuters

Deshalb hat eine Gruppe junger Frauen die Initiative ergriffen und mit dem Slogan „Breaking through“ eine Porträtgalerie von erfolgreichen Frauen zusammengestellt, die in ausführlichen Interviews erläutern, wie sie geworden sind, was sie sind – Professorinnen, Ministerinnen, Rechtsanwältinnen, Unternehmerinnen. Im digitalen Zeitalter sind diese Frauen nicht weit entfernt und entrückt, sondern ansprechbar und befragbar. Wer immer mag, der blättere, es ist ein spannendes digitales Album geworden mit Frauen wie der ehemaligen Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz und gegenwärtigen Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katharina Barley oder der Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg. Weit über 100 Porträts, Geschichten, Lebensläufe, die zeigen, welche Wege möglich sind. Und jede Woche kommen Neue dazu.

Weit über 100 vergleichbare Porträts könnte man im 18. oder im 19. Jahrhundert kaum zusammenstellen. Aber es gab doch auch damals, vor Maria Otto, besonders mutige Frauen, Frauen, die mit ihrem Leben und ihrem Werk nachhaltige Wirkung hatten. Dabei ist es leichter, Herrscherinnen zu finden als Juristinnen, wie es scheint.

Denn auch wenn im 18. Jahrhundert Frauen das politische Geschehen in Europa dominierten – man denke an Katharina II in Russland und Kaiserin Maria Theresia in Österreich – gab es doch noch keine Rechtsberaterinnen oder Advokatinnen. Das Recht schien nicht für die Frauen oder die Frauen nicht für das Recht gemacht zu sein. Die Macht konnte ihnen in die Hände fallen, sei es durch Geburt, sei es durch Heirat. Aber das sachliche Argumentieren wollte man ihnen nicht überlassen.

Vorkämpferinnen in früheren Jahrhunderten

Olympe de Gouges

Und doch gab es auch in dieser Zeit so manche, von denen es sich unter der Überschrift „Frauen und Recht“ zu erzählen lohnt. Eine will ich hervorheben, die grandios gescheitert ist, wobei die Betonung auf „grandios“ liegt: Olympe de Gouge. Sie dachte modern, zu modern für ihre Zeit, die Aufklärung oder, wie es im Französischen so schön heißt, das Zeitalter der Lichter. Die Lichter schienen, aber sie schienen nicht auf die Frauen. Sie konnten sich nicht aus ihrer selbstverschuldeten – oder fremdverschuldeten – Unmündigkeit befreien. Vielmehr waren und blieben sie ausgeschlossen von den menschenrechtlichen Garantien; es waren wirklich „Jedermanns- und nicht Jederfraus Rechte“; „gleich“ war nur die Hälfte der Menschen. Nach Rousseau war die Ungleichheit von Mann und Frau „keine menschliche Einrichtung, oder zumindest nicht das Werk des Vorurteils, sondern der Vernunft“. Diese Einschätzung spricht Bände. An der Ungleichbehandlung und Unterordnung der Frauen wollten die Aufklärer nichts ändern, auch wenn sie ansonsten an allen Bausteinen des traditionellen
Gesellschaftsgebäudes rüttelten.

Marie-Olympe de Gouges war nicht bereit, dies hinzunehmen. Sie stammte aus einfachen Verhältnissen, wurde als Tochter eines Metzgers als Marie Gouze geboren. Um ihre Geburt rankt sich der Mythos, sie sei eigentlich die uneheliche Tochter eines anderen Vaters, irgendwoher müsse sie doch ihr Anderssein haben.15 Ihr Leben begann wie das so vieler anderer Fragen: sehr jung, mit 17 Jahren, wurde sie verheiratet. Ihr Mann verstarb aber schon ein Jahr später, so dass sie nicht das traditionelle Leben einer unsichtbaren Mutter in der französischen Provinz weiterführte, sondern mit Sohn Pierre nach Paris zog und als Olympe
de Gouges zu schreiben begann. Sie hat sich in ihren Romanen, Denkschriften und Theaterstücken kritisch, teils autobiografisch, mit Familien- und Scheidungsrecht, mit der Gleichstellung der Frau, mit Kolonialisierung und Sklaverei auseinandergesetzt und ihre Tätigkeit trotz öffentlicher Anfeindungen, Sabotagen und Inhaftierungen fortgeführt.16

Nahezu gleichzeitig mit der Erklärung der Rechte des Menschen/Mannes (homme) und Bürgers im Jahr 1791 verfasste sie eine Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin.17 In der an die Königin gerichteten Einleitung schreibt sie: „Diese Revolution wird nur dann ihre Wirkung tun, wenn sich alle Frauen ihres beklagenswerten Schicksals und der Rechte, die sie in der Gesellschaft verloren haben, bewusst sein werden.“18 Ihr Urteil ist hart: „Absonderlich, verblendet, wissenschaftlich aufgeblasen und degeneriert will [der Mann] in diesem Jahrhundert der Aufklärung und des Scharfsinns in gröbster Unwissenheit als Despot über ein Geschlecht befehlen, das alle intellektuellen Fähigkeiten besitzt; er beabsichtigt, in den Genuss der Revolution zu kommen und seine Rechte auf Gleichheit einzufordern, um darüber hinaus nichts zu sagen.“19 Interessant ist, dass Olympe de Gouges auch die Gleichberechtigung der Frau bei Strafen fordert: „An jeder für schuldig befundenen Frau wird die volle Härte des Gesetzes angewendet.“20 Unglücklicherweise ist mehr als die „volle Härte des Gesetzes“ auf Olympe de Gouges selbst angewendet worden. Unter der Schreckensherrschaft von Robespierre wurde sie 1793 – zwei Wochen nach Marie-Antoinette – mit der Guillotine hingerichtet.21 Ihr früher Kampf um die Rechte der Frauen hat sie zu einer Ikone der Frauenrechtsbewegung gemacht, wenn auch mit einer Verspätung von fast zweihundert Jahren. Sie hatte als Schriftstellerin das Recht entdeckt, hatte Rechte eingefordert, war aber wohl zu sehr Freigeist, um in ihrer Zeit gehört zu werden und etwas verändern zu können. Sie war Außenseiterin; die von ihr propagierten Rechte auf Gleichberechtigung der Frau in allen Bereichen wurde in keine der französischen Verfassungen aufgenommen.

Die Suffragetten

Mehr unmittelbaren Nachhall im Kampf um politische Partizipation und Gleichberechtigung für Frauen hatte die Bewegung der Suffragetten ein Jahrhundert später. Sie waren Teil einer internationalen Protestbewegung, die für das Frauenwahlrecht kämpfte und mit ihrem Skandale provozierenden, zunehmend militanten Auftritten Aufmerksamkeit erregte.22 Das Frauenwahlrecht wurde im 20. Jahrhundert nach und nach eingeführt – in Finnland als erstem europäischen Land 1906, in Deutschland 1918, in Frankreich 1936, zuletzt in Liechtenstein 1984. Aber es ist noch gar nicht so lange her, dass eine Selbstverständlichkeit geworden ist, was eigentlich schon immer eine Selbstverständlichkeit hätte sein sollen.

Suffragetten

Feminist Suffrage Parade in New York City, 1912, Wikimedia, Gemeinfrei.

Eleonor Roosevelt

Aber so benachteiligt die Frauen auch waren und so spät man entdeckte, dass sie gleichberechtigt Rechte haben müssten, so ist es doch der Name einer Frau, der mit dem wichtigsten Dokument der Menschenrechtsgeschichte verbunden ist: Eleonor Roosevelt. Präsident Truman hatte sie zur US-Delegierten bei den neu gegründeten Vereinten Nationen ernannt; von der zur Ausarbeitung der Menschenrechtserklärung eingesetzten achtzehnköpfigen Kommission wurde sie daraufhin zur Vorsitzenden gewählt. Es gelang ihr, das Projekt als „Madame Chairman“ mit diplomatischem Geschick und Fingerspitzengefühl, vorbei an unendlich vielen Klippen und Sensibilitäten, zu einem erfolgreichen Ende zu führen.

Wie hat sie das geschafft? Menschen – oder besser gesagt: Männer – aus allen Gegenden der Erde kurz nach dem Krieg an einen Tisch zu bekommen, um über die Rechte aller zu diskutieren? Wie hat sie Kompromisse erreicht zu Fragen, zu denen die Antworten nicht nur kulturell bedingt unterschiedlich waren, sondern zu denen es mit dem beginnenden Kalten Krieg unerbittlich-unversöhnliche politisch konträre Positionen gab?

Die Leistung von Frauen als Rechtsanwältinnen

Die Rechtsanwältin Moni van Look

Nun wurde aber fast zeitgleich mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein internationaler Vertrag ausgearbeitet, der im Wesentlichen den gleichen Inhalt hatte, aber nur für den durch den Zweiten Weltkrieg besonders geschundenen Kontinent Europa gelten sollte: Die Europäische Konvention für Menschenrechte. Bei der Ausarbeitung der Konvention war keine Frau dabei, auch in der auf der Grundlage des Vertrages gegründeten Kommission
und im Gerichtshof waren zu Beginn keine Frauen vertreten. Und doch würde ich behaupten, war es der Einfluss von Frauen, der Einfluss der Rechtsanwältinnen, die aus der Konvention erst das gemacht hat, was sie heute ist: ein effektives Instrument zum Schutz der Menschenrechte für 800 Millionen Menschen.
In den ersten beiden Jahrzehnten ihrer Existenz hatte man die Europäische Menschenrechtskonvention als im Dornröschenschlaf befindlich angesehen. Nur wenige kannten sie, die Zahl der Fälle, die an den Gerichtshof pro Jahr gebracht wurden, lag im einstelligen Bereich. Aber es war der Fall einer Benachteiligung einer Frau und ihrer Tochter, der die Wende brachte. Und es war eine junge Frau, die diesen Fall als Anwältin vor Gericht gebracht hatte.

Der Fall trägt den Titel der Klägerin und firmiert unter der Bezeichnis „Marckx v. Belgien“. Damit wurden die Weichen hin zu einem alle Bereiche des menschlichen Lebens umfassenden Menschenrechtsschutz gestellt.26 Und eine breite Öffentlichkeit wurde darauf aufmerksam,
was Menschenrechtsschutz bedeuten und wie er die Gesellschaft verändern könnte.

Paula_Marckx

©Klaas De Scheirder

Der erste und der letzte Satz des Briefes, den die Beschwerdeführerin Paula Marckx im Namen ihrer Tochter Alexandra an den Gerichtshof richtete, hat Rechtsgeschichte geschrieben: „Meine sehr verehrten Herren, ich bin ein 10 Monate altes Baby.“27 Der Brief endete mit dem Aufruf: “Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ein Baby in meinem Alter auf eine Institution wie die Ihre zählen kann, um ihre Rechte zu schützen.“ Es ging um die Benachteiligung unehelich geborener Kinder nach belgischem Recht. Mit dem auch in der Presse veröffentlichten Brief erreichte Paula Marckx, dass der Gerichtshof ihre Beschwerde für zulässig erklärte. Um den Fall vor Gericht zu verteidigen, brauchte sie aber eine Rechtsanwältin. Diese fand sie in Moni van Look, einer siebenundzwanzigjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiterin an der Katholischen Universität von Leuven. Wie progressiv Moni van Look für die damalige Zeit eingestellt war, kann man dem Aufsatz entnehmen, mit dem sie einen Wettbewerb zum „Internationalen Jahr der Frau“ gewann: „The Pattern of Legal Gender Roles“. Darin argumentierte sie, dass die Ehe rechtlich irrelevant sein sollte. Ein Freund, der in den „Kreisen zur Befreiung der Frauen“ aktiv war, vermittelte einen Kontakt zwischen Moni van Look und Paula Marckx.28 Hier hatten sich zwei Freigeister getroffen, die die Ungerechtigkeiten des belgischen Familien- und Erbrechts nicht hinzunehmen bereit waren und in Straßburg ein Forum fanden, das über den Fall diskutierte und zu dem Schluss kam, Mutter und Tochter sei Unrecht geschehen. In der Rückschau sind die damaligen Regelungen des belgischen Rechts auch wahrlich haarsträubend. Die Mutter eines außerhalb einer gültigen Ehe geborenen Kindes war mit ihrem eigenen Kind im rechtlichen Sinne nicht verwandt, so lange sie es nicht anerkannte; mit der Anerkennung aber war verbunden, dass es keinerlei rechtliche Beziehung – und damit insbesondere auch kein Erbrecht – im Verhältnis zum Vater gab. Für Moni van Laak war dies der erste Fall; sie war die erste Frau, die vor Kommission und Gerichtshof auftrat. Erfolgreich. Erfolgreich nicht nur in der Sache, sondern auch mit Blick auf
die Nachwirkung der Entscheidung. Sie hat den Stein ins Rollen gebracht, eheliche und uneheliche Kinder vollständig gleichzustellen, ein schwieriges Unterfangen aufgrund der in manchen Ländern tief verwurzelten Ungleichbehandlungen – auch Deutschland wurde deswegen noch in den letzten Jahren mehrfach – 200929 und 201730 – verurteilt. Vielleicht noch wichtiger aber war, dass mit der Entscheidung Marckx v. Belgien die Konvention als „living instrument“, als ein sich dynamisch fortentwickelnder Vertrag angesehen wurde. Wäre diese Weiche nicht so gestellt worden, wäre die Konvention längst tot – wer würde dafür eintreten, die Anschauungen der späten 40er und frühen 50er Jahren zur Richtschnur unseres Menschenrechtsverständnisses machen zu wollen? Die Anwältin Moni van Loos war jahrzehntelang Scheidungsanwältin in Belgien. Aber es war ihr erster Fall, der sie berühmt gemacht hatte; mit ihrem überzeugten und überzeugenden Eintreten für Mütter- und Kinderrechte hat sie den Weg bereitet für eine europäische Plattform zur Entscheidung über
alle Arten von komplexen und kontroversen familienrechtlichen Fällen – von den Rechten der Homosexuellen bis zu den Rechten von aus Leihmutterschaft geborenen Kinder. Ohne den Fall Marckx wäre diese Türe nicht offen gewesen.

Mary Robinson

Für eine weitere Frau als Anwältin gilt es in der Geschichte der Europäischen Menschenrechtskonvention noch zu ihren Lebzeiten ein Denkmal zu errichten. Auch sie ist eine Überzeugte, ein Vorbild, eine Pionierin – Mary Robinson.

Sie war eigentlich alles in ihrem Leben, mit 25 Jahren Professorin für Verfassungsrecht und Strafrecht am Trinity College in Dublin, von 1990 bis 1997 Staatspräsidentin von Irland, später noch UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Sondergesandte für den Klimawandel, und – Anwältin von Johanna Airey, einer 1932 geborenen armen und unglücklichen Frau, Mutter von vier Kindern und verheiratet mit einem gewalttätigen Alkoholiker. 1972 wurde er wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt. Johanna Airey konnte sich nach irischem Recht nicht von ihrem Mann scheiden lassen, wollte aber zumindest die Trennung von Tisch und Bett erreichen, so dass er nicht mehr zu ihr ins Haus zurückkommen könnte. Acht Jahre versuchte sie ihn zu überzeugen, einen entsprechenden Vertrag zu unterschreiben, ohne Erfolg. Danach wollte sie den Fall vor Gericht bringen, scheiterte aber daran, dass kein solicitor bereit war, ihre Vertretung zu übernehmen, da sie nichts zahlen konnte. Prozesskostenhilfe gab es nicht. Mary Robinson nahm sich ihres Falles an und brachte ihn nach Straßburg.31 Sie machte eine Vielzahl von verletzten Rechten geltend, drang aber nur mit einem Antrag durch – dem Antrag festzustellen, dass Johanna Airey keinen Zugang zu Gericht gehabt habe, ein nach Art. 6 EMRK garantiertes Recht. Den Fall zu gewinnen, war schwierig, da die EMRK für zivilrechtliche Klagen, anders als für strafrechtliche Klagen, gerade keine Prozesskostenhilfe garantiert und damit der e-contrario-Schluss zur Abweisung ihrer Beschwerde nahe lag. Auch war eine anwaltliche Vertretung von den irischen Gerichten de iure nicht erforderlich. Fraglich war, ob der Gerichtshof das de-facto-Argument hören würde, dass noch niemand ohne anwaltliche Vertretung seinen Fall vor dem Supreme Court gewonnen hatte. Mary Robinson hat Johanna Aireys Rechte durchgesetzt und den Prozess gewonnen, mehr noch, sie hat die Rechtsprechung des Gerichtshofs auf eine Grundlage gestellt, die noch heute als ehernes Prinzip wieder und wieder zitiert wird: „Die Konvention ist geschaffen, um Rechte zu garantieren, die nicht theoretisch und illusorisch, sondern praktisch und effektiv sind.“ Der Grundsatz scheint schon in früheren Fällen auf, mit dem Fall Airey wurde er auch auf eine sozialrechtliche Rechtsposition bezogen. Der Gerichtshof hielt fest, dass soziale und bürgerliche Rechte insofern nicht wasserdicht voneinander zu trennen wären; auch dies ist ein geflügeltes Zitat geworden. Mary Robinson hat so mit ihrer anwaltlichen Vertretung in einem Fall, der Leiden betraf, das für Frauen typisch war und ist, Rechtsgeschichte geschrieben.
Inzwischen ist die Rechtsprechung zu diesen Fragen umfassend erweitert. Dies gilt in ganz besonderer Weise für Gewalt gegen Frauen. Hier hat der Gerichtshof den Staaten strenge Pflichten aufgegeben, darüber zu wachen, dass Frauen geschützt werden. Inzwischen ist dazu auch die so genannte Istanbul Convention ausgearbeitet worden, die die Schutzstandards definiert. Der Gerichtshof hat sich auch für die Rechte der geflüchteten Frauen und ihrer Kinder eingesetzt, die oftmals – etwa beim Warten auf Abschiebungen – in Sammelunterkünften in einer Art und Weise untergebracht sind, die ihre Würde verletzt. Auch eine Reihe von Diskriminierungsfällen gibt es, auch wenn Benachteiligungen aufgrund gesetzlicher Regelungen selten geworden sind und unterschwellige Schlechterstellungen eher in der Gesamtschau als an Einzelfällen offenbar werden; die Urteile des Gerichtshofs können aber immer nur Einzelfälle in den Blick nehmen. Befasst hat sich der Gerichtshof mit Frauenthemen wie Hausgeburten32, Rückführungen von Frauen in Länder, in denen ihnen Female Genital Mutilation droht33 und auch Zwangsprostitution34. Oftmals konnte er helfen und neue europäische Standards setzen.

Mary_Robinson

Mary Robinson by Áras an Uachtaráin

Schlussbemerkung

Es wäre übertrieben zu sagen, dass das Recht im Jahr 2022 in den Händen der Frauen angekommen wäre. Aber es gibt viele Richterinnen, die Recht sprechen, es gibt Anwältinnen, die Fälle vertreten, es gibt Frauen, die sich durch ihren Mut auszeichnen und in NGOs tätig sind und sich für die Rechte der Erniedrigten und Beleidigten einsetzen. An den Universitäten sind inzwischen über 50 % weibliche Studierende. In manchen Ländern wie Frankreich höre ich, man suche schon händeringend beim Nachwuchs um Männer, um nicht alle Gerichtsbänke ausschließlich weiblich zu besetzen. Bedeutet dies, dass nunmehr alles gut ist? Wurde mit der Wahl von Ruth Bader Ginsburg an den amerikanischen Supreme Court und Brenda Hale an den britischen Supreme Court, mit Doris König als Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts und mit Bettina Limperg als Präsidentin eines der höchsten deutschen Gerichte, eingelöst, was Olympe de Gouges mit ihrem Aufruf zur Gleichberechtigung der Frauen gefordert hat? Wie so oft ist das Glas halbleer und halbvoll zugleich. Wir wissen, dass es noch ein langer Weg ist, bis in Biographien das Geschlecht überhaupt keine Rolle mehr spielt. Mein Weg mit mehrfachen Unterbrechungen meiner Arbeitstätigkeit wegen der Geburt meiner Söhne, mit langen Jahren, in denen ich als Wissenschaftlerin nur halbtags gearbeitet habe und fast verzweifelte, mit meinen Projekten in den vier Stunden, die mir jeden Tag zur Verfügung standen, nicht ausreichend voranzukommen, ist sicherlich ein anderer als der Weg der meisten meiner männlichen Kollegen.

Auch die Epidemie hat gezeigt, dass Rollenmuster wieder deutlich hervortreten und die Frauen als arbeitende Mütter mit Kindern im homeschooling und als diejenigen, die in den meisten Pflegeberufen aktiv sind, überproportional gefordert und belastet werden. Heute blicken wir auf einen 100-jährigen Weg zurück und freuen uns über das Erreichte. Vielleicht darf ich mit einer persönlichen Note schließen. Meine Großmutter war in etwa zur Zeit von Maria Otto in München geboren. Sie hat Klavierspielen, Französisch und Italienisch gelernt, geheiratet und sich der Familie gewidmet. Von ihr ist überliefert, dass sie in der Zeit der Weimarer Republik von München nach Berlin „ausgerissen“ sei, um sich ein eigenes Leben aufzubauen; es war aber nicht möglich. Ganz offensichtlich war sie nicht so hartnäckig und durchsetzungsstark wie Maria Otto. Meine Mutter, die nächste Generation, hat Mathematik und Physik studiert und hatte als Frau an der mathematischen Fakultät in München den Spitznamen „Miss Pi“. Sie war in den 50er Jahren Lehrerin und hat ihren Beruf geliebt, hat dann aber – aus gesellschaftlichen Zwängen – bei der Geburt des ersten Kindes alles aufgegeben. Ich habe in den 80er Jahren studiert und konnte meinen Weg gehen. Selten war ich die einzige Frau, aber wir waren oftmals – an der Fakultät, am Gerichtshof, in Kommissionen und Gremien – nur wenige. Dennoch gab es keine unüberwindbaren Steinblöcke mehr, die man uns in den Weg gelegt hätte. Meine kleine Enkelin ist bald drei Jahre alt. Wenn die gesellschaftliche Entwicklung so dynamisch weiter geht wie im 20. Jahrhundert von der Generation von Maria Otto bis zur heutigen Generation, wird im Leben der Generation 2020+ vielleicht vieles so sein, wie es sich Frauen wie Maria Otto vor 100 Jahren gewünscht haben.

Aber das wird nicht von selbst gehen. Wir müssen etwas dafür tun.