Frauen als Vorbilder in der Gegenwart

Professorin Dr. DDr. h.c. Angelika Nußberger M.A 

Noch immer ist es eine Nachricht, dass eine Frau „die erste Frau“ ist: die erste Frau im All, die erste Bundeskanzlerin, die erste Verteidigungsministerin; wir kennen sie alle, diese „ersten Frauen“, diese Nachrichten. Ich selbst habe die Freude, seit dem 6.1.2022 die erste Vorsitzende der Staatsrechtslehrervereinigung zu sein, gleichfalls nach 100 Jahren. Aber wir hoffen, dass es mit derartigen Nachrichten bald ein Ende haben wird, weil Frauen alle Bereiche des öffentlichen Lebens erobert haben und nirgendwo mehr ausgeschlossen sind, weil die Zeit der Pionierinnen vorbei ist und eine Epoche beginnt, in der die Zusammenarbeit von Männern und Frauen eine Normalität ist, die keiner Kommentierung mehr bedarf.

Porträt Maria Otto

Maria Otto / Foto: Philipp Kester

Maria Otto (Von Philipp Kester – https://sammlungonline.muenchner-stadtmuseum.de/objekt/maria-otto-10112870.html, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=104543663)

Das war im Jahr 1922 völlig anders. Maria Otto, derer wir heute mit dieser Feier gedenken, lebte nicht in einer derartigen Normalität. Sie war ausgeschlossen. Sie stand vor einer Mauer des Unverständnisses und der Intoleranz. Nachdem sie eine juristische Ausbildung gemacht hatte, wurde sie nicht zum Referendardienst zugelassen. Sie erstritt eine „informatorische Teilhabe“, konnte aber das zweite Staatsexamen nicht ablegen und damit keinen der klassischen Rechtsberufe ergreifen. Dabei war sie besonders gut ausgebildet, hatte ein Zweitstudium absolviert und war Diplomkauffrau, zudem promoviert mit dem Thema „Der internationale Rechtsschutz gegen unlauteren Wettbewerb“.

All das nutzte nichts, das Gesetz war klar, sie hatte keine Chance, ihre Kenntnisse unter Beweis zu stellen und ihren Wunschberuf zu ergreifen. Dem standen gesellschaftliche Ursachen, aber auch wirtschaftliche Überlegungen entgegen; man wollte keine zusätzliche Konkurrenz in einem Beruf, der als „überfüllt“ galt. 100 Jahre später sieht die Situation anders aus. Frauen haben die Rechtsberufe erobert, auch wenn sie zumeist noch in der Minderheit sind. Eine Ausnahme ist das BVerfG, dort sind sie in der Mehrheit. In den Führungspositionen in der Justiz schwanken die Zahlen für 2020 zwischen 12,5 % in Mecklenburg-Vorpommern und fast 42 % in Hamburg. Aber es war ein langer Weg dahin. Maria Otto war eine eher stille Vertreterin, von ihr ist nicht viel zu berichten. Sie wollte, wie sie sagte, für ihre „Mitschwestern“ da sein und befasste sich mit Familiensachen, war in einer Vielzahl von Vormundschaftsangelegenheiten tätig, konzentrierte sich damit eher auf Themen, die traditionell Frauen zugedacht wurden. Sie war keine Kämpferin. Das Feld hat sie anderen überlassen, auch jenen, die nach ihr gekommen sind. Andere Frauen waren lauter, sichtbarer, einflussreicher. Zu den lauten, sichtbaren und einflussreichen Frauen des Rechts gehört sicherlich Ruth Bader Ginsburg.

Ruth Bader Ginsburg

Spätestens im Jahr 2018 kannten sie alle, als fast zeitgleich ein Spiel- und ein Dokumentarfilm über sie gedreht wurden. „Ein Leben für die Gerechtigkeit“ – so hieß der Dokumentarfilm über die bedeutendste Richterin am amerikanischen Supreme Court, Ruth Bader Ginsburg, RBG, wie sie liebe- und achtungsvoll genannt wurde. Sie wurde 40 Jahre nach Maria Otto auf einem anderen Kontinent geboren, 1933. Es war immer noch eine Welt, in der niemand wusste, dass es einmal Gender-Sternchen geben würde, eine Welt, in der Leistung zählte, aber nicht allen zugestanden wurde zu zeigen, zu welchen Leistungen sie fähig waren, in der Ehe zugleich Tugend und Selbstverständlichkeit war. Ruth Bader Ginsburg wurde zur Vorkämpferin für Frauenrechte. Sie war zu klug und zu willensstark, um sich in die vorgegebenen gesellschaftlichen Schablonen für ein Frauenleben einzupassen, sie wollte nicht anerkennen, dass alles, so wie es war, auch sein musste, das hatte sie mit Maria Otto gemeinsam. Es gelang ihr etwas zu bewegen in einer Gesellschaft, die nicht auf sie vorbereitet war und sich doch ihren Argumenten nicht verschließen konnte. 1993 wurde sie zur Richterin am Supreme Court ernannt.

Ruth Bader Ginsburg (Steve Petteway / Collection of the Supreme Court of the United States)

In dem Dokumentationsfilm wird ihre Streitbarkeit und ihre Durchsetzungsfähigkeit nachgezeichnet, ihre Geradlinigkeit und Willensstärke. Dem Dokumentationsfilm folgte noch im selben Jahr ein Spielfilm mit dem Titel „On the basis of sex“, deutsch „Die Berufung“. Damit war sie ein Star, eine Ikone, T-Shirts wurden mit der Aufschrift „Notorious RBG“ gedruckt ebenso wie Tassen und andere Devotionalien. Die kleine alte Frau, vielleicht 1,55 m groß, zierlich, fragil, selbstbestimmt, sah man lächelnd in all dem Rummel stehen, der sie plötzlich umgab. Sie blieb dabei: „I dissent – ich bin anderer Meinung.“ 2020 ist sie gestorben, im Alten von 87 Jahren. Frau, Juristin, Ikone.

Ralph Alswang/White House Photograph Office Quelle: US National Archives and Records Administration6

Brenda Hale (image taken from Supreme Court/Parliament TV footage. Supreme Court/Parliament TV via Reuters)

Brenda Hale

Aber auch wenn RBG einmalig ist und sich bereits ein Mythos um sie gebildet hat, so gibt es doch andere, die ihr nicht viel nachstehen, auch wenn sie etwas weniger bekannt sein mögen. Erinnern Sie sich noch an jene Spinne, mit der eine Frau Rechtsgeschichte geschrieben hat? Es war Brenda Hale, die Präsidentin des britischen Supreme Court, die das Urteil verkündete, mit dem Boris Johnsons Versuch, das britische Parlament auszuspielen und mit einer Fristverschiebung zu verhindern, dass es über den Brexit debattieren könnte, juristisch zurückgepfiffen wurde.

Im Rückblick mag man streiten, was mehr Beachtung fand, die Spinne oder das Urteil. Ich traf Brenda Hale kurze Zeit später in Lincoln’s Inn. Ebenso wie RBG ist sie eine sehr kleine, zerbrechlich wirkende Frau, in der Argumentation präzise und überzeugend, zugleich mit einer ironischen Distanz zu sich selbst. Auf die Spinne angesprochen meinte sie, die Spinne gehöre eben zum Kleid. Und nachdem sie sich am Morgen für das Kleid entschieden hatte, durfte die Spinne nicht fehlen. Mut zur Schrulligkeit, Mut zur Extravaganz, oder einfach britischer Humor?

Diese Frauen haben ihren Weg gemacht, sie waren immer noch, wie Maria Otto, „die Erste“, „die Einzige“. Sie konnten kaum Vorbilder haben, den es gab nur wenige vor ihnen, die an die Spitze gekommen waren. In der Gegenwart ist das sicherlich anders. Aber einfach ist es noch immer nicht.

Deshalb hat eine Gruppe junger Frauen die Initiative ergriffen und mit dem Slogan „Breaking through“ eine Porträtgalerie von erfolgreichen Frauen zusammengestellt, die in ausführlichen Interviews erläutern, wie sie geworden sind, was sie sind – Professorinnen, Ministerinnen, Rechtsanwältinnen, Unternehmerinnen. Im digitalen Zeitalter sind diese Frauen nicht weit entfernt und entrückt, sondern ansprechbar und befragbar. Wer immer mag, der blättere, es ist ein spannendes digitales Album geworden mit Frauen wie der ehemaligen Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz und gegenwärtigen Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katharina Barley oder der Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg. Weit über 100 Porträts, Geschichten, Lebensläufe, die zeigen, welche Wege möglich sind. Und jede Woche kommen Neue dazu.

Weit über 100 vergleichbare Porträts könnte man im 18. oder im 19. Jahrhundert kaum zusammenstellen. Aber es gab doch auch damals, vor Maria Otto, besonders mutige Frauen, Frauen, die mit ihrem Leben und ihrem Werk nachhaltige Wirkung hatten. Dabei ist es leichter, Herrscherinnen zu finden als Juristinnen, wie es scheint.

Denn auch wenn im 18. Jahrhundert Frauen das politische Geschehen in Europa dominierten – man denke an Katharina II in Russland und Kaiserin Maria Theresia in Österreich – gab es doch noch keine Rechtsberaterinnen oder Advokatinnen. Das Recht schien nicht für die Frauen oder die Frauen nicht für das Recht gemacht zu sein. Die Macht konnte ihnen in die Hände fallen, sei es durch Geburt, sei es durch Heirat. Aber das sachliche Argumentieren wollte man ihnen nicht überlassen.

Katharina II, Nachahmer von Johann Baptist von Lampi-Kunsthistorisches Museum

Portrait of Maria Theresia by Martin van Meytens, 1759

Olympe de Gouges (1748- 1793), Pastell von Alexander Kucharski (1741-1819), CC BY-SA Bonarov

Erste Seite der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, 1791, Wikimedia, gemeinfrei

Marie-Olympe de Gouges war nicht bereit, dies hinzunehmen. Sie stammte aus einfachen Verhältnissen, wurde als Tochter eines Metzgers als Marie Gouze geboren. Um ihre Geburt rankt sich der Mythos, sie sei eigentlich die uneheliche Tochter eines anderen Vaters, irgendwoher müsse sie doch ihr Anderssein haben.15 Ihr Leben begann wie das so vieler anderer Fragen: sehr jung, mit 17 Jahren, wurde sie verheiratet. Ihr Mann verstarb aber schon ein Jahr später, so dass sie nicht das traditionelle Leben einer unsichtbaren Mutter in der französischen Provinz weiterführte, sondern mit Sohn Pierre nach Paris zog und als Olympe
de Gouges zu schreiben begann. Sie hat sich in ihren Romanen, Denkschriften und Theaterstücken kritisch, teils autobiografisch, mit Familien- und Scheidungsrecht, mit der Gleichstellung der Frau, mit Kolonialisierung und Sklaverei auseinandergesetzt und ihre Tätigkeit trotz öffentlicher Anfeindungen, Sabotagen und Inhaftierungen fortgeführt.16

Nahezu gleichzeitig mit der Erklärung der Rechte des Menschen/Mannes (homme) und Bürgers im Jahr 1791 verfasste sie eine Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin.17 In der an die Königin gerichteten Einleitung schreibt sie: „Diese Revolution wird nur dann ihre Wirkung tun, wenn sich alle Frauen ihres beklagenswerten Schicksals und der Rechte, die sie in der Gesellschaft verloren haben, bewusst sein werden.“18 Ihr Urteil ist hart: „Absonderlich, verblendet, wissenschaftlich aufgeblasen und degeneriert will [der Mann] in diesem Jahrhundert der Aufklärung und des Scharfsinns in gröbster Unwissenheit als Despot über ein Geschlecht befehlen, das alle intellektuellen Fähigkeiten besitzt; er beabsichtigt, in den Genuss der Revolution zu kommen und seine Rechte auf Gleichheit einzufordern, um darüber hinaus nichts zu sagen.“19 Interessant ist, dass Olympe de Gouges auch die Gleichberechtigung der Frau bei Strafen fordert: „An jeder für schuldig befundenen Frau wird die volle Härte des Gesetzes angewendet.“20 Unglücklicherweise ist mehr als die „volle Härte des Gesetzes“ auf Olympe de Gouges selbst angewendet worden. Unter der Schreckensherrschaft von Robespierre wurde sie 1793 – zwei Wochen nach Marie-Antoinette – mit der Guillotine hingerichtet.21 Ihr früher Kampf um die Rechte der Frauen hat sie zu einer Ikone der Frauenrechtsbewegung gemacht, wenn auch mit einer Verspätung von fast zweihundert Jahren. Sie hatte als Schriftstellerin das Recht entdeckt, hatte Rechte eingefordert, war aber wohl zu sehr Freigeist, um in ihrer Zeit gehört zu werden und etwas verändern zu können. Sie war Außenseiterin; die von ihr propagierten Rechte auf Gleichberechtigung der Frau in allen Bereichen wurde in keine der französischen Verfassungen aufgenommen.

Die Suffragetten

Mehr unmittelbaren Nachhall im Kampf um politische Partizipation und Gleichberechtigung für Frauen hatte die Bewegung der Suffragetten ein Jahrhundert später. Sie waren Teil einer internationalen Protestbewegung, die für das Frauenwahlrecht kämpfte und mit ihrem Skandale provozierenden, zunehmend militanten Auftritten Aufmerksamkeit erregte.22 Das Frauenwahlrecht wurde im 20. Jahrhundert nach und nach eingeführt – in Finnland als erstem europäischen Land 1906, in Deutschland 1918, in Frankreich 1936, zuletzt in Liechtenstein 1984. Aber es ist noch gar nicht so lange her, dass eine Selbstverständlichkeit geworden ist, was eigentlich schon immer eine Selbstverständlichkeit hätte sein sollen.

Suffragetten (Feminist Suffrage Parade in New York City, 1912, Wikimedia, Gemeinfrei.)